Seit einem Monat herrscht Krieg im Sudan. Die Gefechte zwischen den sudanesischen Streitkräften und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) in dicht besiedelten Gebieten haben zu vielen Toten und Verletzten geführt. Hunderttausende sind auf der Flucht. Besonders für Frauen ist die Situation ernst. Frauen hatten in der Revolution 2019, die den Diktator Al-Bashir stürzen konnte, eine entscheidende Rolle gespielt. Nach einer kurzzeitigen Übergangsregierung kam es 2021 zu einem Militärputsch, was die Lage für Frauen und die Zivilgesellschaft erneut verschlimmert hat. Auch im aktuellen Krieg sind Frauen besonders von Gewalt betroffen.
Ein Interview mit Leem Tagelsir Abdalla Elnageib von der Gruppe SudanUprising
Wie ist die aktuelle Lage im Sudan, insbesondere für Frauen?
Die Lage ist sehr ernst. Jeden Tag steigt die Zahl der Toten und Verletzten. Da die meisten schweren Gefechte in dicht besiedelten Wohngebieten stattfinden, ist das Ausmaß der Schäden verheerend: Häuser, Schulen, Straßen, medizinische Einrichtungen und Fahrzeuge, die Flüchtende oder Lebensmittel und Wasser transportieren, werden getroffen. Zivilist*innen, die versuchen, sich in Sicherheit zu bringen, werden angegriffen.
Dabei sind es vor allem Frauen, die den höchsten Preis zahlen. Zum einen, weil sie es sind, auf denen die Last des Schutzes der Familie, vor allem der älteren Menschen und der Kinder, liegt. Das gilt vor allem seit dem 15. April. Sie versuchen, Wasser, Lebensmittel und Medikamente aufzutreiben. Häuser wurden bombardiert, Wasser und Strom wurden abgestellt, Geschäfte wurden geschlossen und es kam zu Plünderungen und Diebstählen. Das alles verschlimmerte die humanitäre Situation und die Belastung der Frauen enorm. Hinzu kommt zunehmende Gewalt gegen Frauen: Die Abteilung für Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen im sudanesischen Ministerium für Soziales hat neulich drei Fälle gemeldet, in denen Frauen auf der Flucht vergewaltigt wurden. Die Dunkelziffer liegt vermutlich noch viel höher. Die meisten Fälle von sexueller Gewalt werden aufgrund von Problemen in der Kommunikation und der Tatsache, dass viele Krankenhäuser außer Betrieb sind, nicht mal erfasst. Auch wird insbesondere weibliches Gesundheitspersonal des sudanesischen Ärztesyndikats bedroht, das unter diesen gefährlichen Bedingungen mutig weiterarbeitet. Mehrere medizinische Fachkräfte wurden getötet, darunter etwa vier Ärztinnen.
Wie ging es Frauen unter Bashirs Herrschaft?
In den drei Jahrzehnten unter Bashir gab es einen enormen Rückschritt in den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der Frauen. Mit der Machtübernahme des Diktators Omar Al-Bashir nach dem Putsch von 1989 sollte die sudanesische Gesellschaft nach den Vorstellungen der Islamischen Bewegung umgestaltet werden. Das islamistische Regime griff alle Aspekte des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens im Sudan an und konzentrierte sich dabei insbesondere auf die Unterdrückung der Frauen, da es sich des Potenzials der Frauen im Sudan sehr wohl bewusst war. Deshalb wurde versucht, Frauen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen und sie zu isolieren. Das Regime erließ ein ganzes Arsenal an frauenverachtenden Gesetzen, wie z. B. Änderungen des Familiengesetzes, die die Verheiratung von Mädchen ab dem zehnten Lebensjahr legalisierten oder die Verabschiedung eines sogenannten "Gesetzes für die öffentliche Ordnung", das restriktive Kleiderordnungen und Verhaltensregeln für Frauen beinhaltet. Frauen und feministische Aktivist*innen wurden durch diese Gesetze unterdrückt. Um ihren Widerstand zu brechen und sie einzuschüchtern, wurden Kriminalisierung und sexualisierte Gewalt als Waffe eingesetzt. Eine weitere besonders betroffene Gruppe sind arme Frauen und Arbeiterinnen, vor allem Tee- und Lebensmittelverkäuferinnen, die aufgrund von Krieg aus Darfur und dem Blauen Nil geflüchtet sind.
Welche Rolle haben Frauen im Kampf gegen Bashirs Diktatur und gegen die Militärherrschaft nach dem Putsch 2021 gespielt?
Sudanesische Frauen kämpften dreißig Jahre lang mutig und entschlossen gegen das Regime und gegen die vom Regime erlassenen frauenfeindlichen Gesetze und Verordnungen, die Frauen kriminalisierten. Sie waren sich der klaren Frauenfeindlichkeit des Regimes bewusst. Je mehr die Unterdrückung zunahm, umso organisierter war der Widerstand der Frauen dagegen. Basierend auf einer langen Widerstandstradition bildeten sie eine Reihe von Widerstandsgruppen, in denen sie dafür kämpften, das Bewusstsein von Frauen in Bezug auf das Bashir-Regime zu schärfen. So traten Frauen verschiedener politischer Parteien etwa Anfang der 1990er-Jahre unter dem Namen "Nationale Versammlung der sudanesischen Frauen" hervor, um gemeinsam Widerstand gegen das islamistische Regime zu leisten. Ein weiteres Beispiel ist die Initiative "Nein zur Frauenunterdrückung", die ebenfalls Frauen aus verschiedenen politischen Hintergründen zusammenbrachte. Sie wurde 2009 im Zusammenhang mit dem Prozess gegen die Journalistin Lubna Ahmed el-Hussein und zwölf weitere Frauen wegen des Tragens von Hosen gegründet. In all diesen Kämpfen wurden große Bündnisse zwischen Frauenorganisationen gebildet.
Die Wut, die sich im Laufe der Jahre angestaut hat, ist aus der systematischen Unterdrückung entstanden, der die sudanesischen Frauen drei Jahrzehnte lang ausgesetzt waren. Deshalb spielten sie eine so große Rolle bei der Revolution 2019. Der organisierte Widerstand, mit dem sie dieser Unterdrückung begegneten, verlieh ihnen eine große Erfahrung in der Organisation und die Fähigkeit, Mittel und Strukturen des Widerstands zu entwickeln.
Wie ging es danach weiter?
Obwohl die Frauen in der Revolution von 2019, die von der ganzen Welt mitverfolgt wurde, eine so große Rolle spielten, hat sie für die Frauen vor Ort nichts gebracht, außer dass sie bei verschiedenen Gelegenheiten für ihren Mut gelobt wurden. Die frauenfeindlichen Gesetze blieben unverändert. Und nicht nur das, die Übergangsregierung hat die Frauen völlig ignoriert, was zeigt, dass die politischen Eliten im Sudan nach wie vor unter der Macht des Patriarchats stehen. Nach dem Militärputsch 2021 unter der Führung von General Abdel Fattah Al-Burhan gingen die Frauen erneut als revolutionäre Kräfte auf die Straße, um sich dem Putsch zu widersetzen. Der Kampf der sudanesischen Frauen für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit ist weiterhin unerlässlich und unvermeidlich und geht seither trotz der blutigen Repressionen weiter.
Was sind eure Forderungen an die internationale Gemeinschaft und an die Menschen, die sich für Frieden und Freiheit im Sudan einsetzen wollen?
Unsere Hauptforderung ist die Beendigung des Krieges und die volle Machtübernahme durch die Zivilbevölkerung. Und ich wiederhole hier den Slogan der sudanesischen Revolutionäre: "Das Militär in die Kasernen und die RSF auflösen!"
Die EU, die europäischen Politiker*innen und die europäische Zivilgesellschaft fordern wir auf:
- alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Kämpfe im Sudan zu beenden.
- die Genfer Konventionen durchzusetzen und unverzüglich humanitäre Korridore und sichere Fluchtwege einzurichten
- Druck auf die RSF und das Militär auszuüben, damit sie sich an die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Recht halten
- Möglichkeiten zur Unterstützung der Kriegsparteien zur verhindern
- Einfluss zu nehmen auf Länder und Organisationen, die die Kriegsparteien unterstützen, von denen viele Verbündete der EU sind oder mit ihr Geschäfte machen, und jegliche materielle, finanzielle und militärische Unterstützung, Einmischung oder Intervention einzustellen
- Durchsetzung von Waffenverboten und Unterbrechung der Waffenlieferungen in das Land sowie Sanktionierung führender Persönlichkeiten, die an der Gewalt beteiligt sind
- laut und unmissverständlich ihr Engagement für die sudanesische Forderung nach einer vollständigen Machtübergabe an die Zivilbevölkerung zu bekräftigen
- logistische Möglichkeiten zu schaffen und bürokratische Hindernisse zu beseitigen für die Lieferung dringend benötigter Hilfsgüter, insbesondere Erste-Hilfe-Kits, lebensrettende Medikamente und Notvorrat.
Das sudanesische Volk wird keine Diktatur akzeptieren, die ihr von außen aufgezwungen wird, und wir rufen alle unsere Geschwister auf, sich mit der sudanesischen Revolution zu solidarisieren.
Interview: Hêlîn Dirik
Am 19. November hat die türkische Armee mit heftigen, großflächigen Luftangriffen in Rojava begonnen und dabei Kämpfer*innen wie Zivilist*innen getötet. Rojava ist der ganzen Welt für ihren Frauenwiderstand bekannt – Frauen haben sich dort nicht nur aktiv im Kampf gegen den IS beteiligt, sondern haben gleichzeitig ein alternatives Gesellschaftsmodell geschaffen, das auf Frauenbefreiung, Ökologie und Solidarität beruht.
Die Frauen in Rojava sind unter dem Dach der Frauenbewegung Kongra Star organisiert, die sich 2005 gründete. Für diese Ausgabe wurde eine Vertreterin von Kongra Star zu den aktuellen Geschehnissen interviewt.
Die Türkei hatte schon länger mit einer weiteren Invasion in Rojava gedroht und die Region in den vergangenen Monaten mit Drohnen angegriffen. Jetzt hat sie mit den heftigen Bombardements begonnen. Warum gerade jetzt?
Die Türkei war und ist in Bedrängnis. Das Timing der Angriffe kann unter verschiedenen Aspekten analysiert werden. Die Türkei drängt schon seit einigen Monaten auf eine Bodenoffensive, bloß waren die lokalen, regionalen und internationalen Umstände bis jetzt nicht geeignet für eine solche neue Militäroperation. Was in Rojava/Nord- und Ostsyrien geschieht, ist eng mit politischen Entwicklungen auf regionaler und internationaler Ebene verbunden. In diesem Zusammenhang nutzt die Türkei die Lage in der Ukraine und die Möglichkeiten, die der Konflikt zwischen Mächten wie den USA und Russland bietet, für ihre eigenen Bestrebungen aus. Zum anderen dienen die Angriffe dem türkischen Staat dazu, seine politischen Kräfte in einer Zeit neu zu organisieren, in der aufgrund der bevorstehenden Wahlen interne Konflikte und Widersprüche zunehmen. Die antikurdische Haltung des Staates fungiert als Bindeglied zwischen allen staatsnahen politischen Kräften, was in einer Zeit, in der sich der Staat auf der Grundlage von Genoziden an den Kurd*innen als "Zweite Türkische Republik" neu organisiert, sehr wichtig ist. Das Jahr 2023 markiert den 100. Jahrestag der türkischen Republik. Vor allem das derzeitige Regime sieht das Jahr 2023 als den Beginn einer "Zweiten Türkischen Republik" an.
Der Zeitpunkt der Bombardierungen steht auch im Zusammenhang mit Veränderungen vor Ort. Der türkische Geheimdienst hat im vergangenen Monat die dschihadistische Organisation Hay'at Tahrir al-Sham (HTS), ehemals al-Nusra-Front, nach Afrîn verlegt. Dieser Schritt ist als Plan zu werten, diese Truppe als Söldner bei einer drohenden Bodenoffensive gegen die Kurd*innen in der Shahba-Region und Til Rifat einzusetzen. Nebenher ändert die Türkei außerdem ihre Haltung gegenüber dem syrischen Regime. Erdoğan erklärte, er sei bereit, Assad in Damaskus zu treffen. Im Einklang mit russischen Interessen versucht die Türkei, sich mit dem syrischen Staat zu verbünden, um die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien zu zerstören. In den letzten Wochen hat es zahlreiche Gespräche zwischen Ankara und Damaskus gegeben. Die aktuellen Angriffe der Türkei sind auch in diesem Licht zu sehen - sie zielen auch darauf ab, das syrische Regime unter Druck zu setzen.
Was bedeuten die jüngsten Angriffe für die Frauen in der Region, aber auch für die Frauenbewegungen/feministischen Bewegungen in der Welt?
Was in den derzeit besetzten Städten geschieht, ist Feminizid. Es gibt mehr oder weniger keinen Unterschied zwischen der Praxis des IS in Raqqa und der Türkei und den ihr angegliederten Söldnern in Afrîn. Jetzt will die Türkei Rojava/Nord- und Ostsyrien weiter besetzen. Die Angriffe der Türkei zielen darauf ab, die Frauenrevolution zu zerstören, die den Kern der Rojava-Revolution bildet. Die Revolution von Rojava ist die erste Frauenrevolution des 21. Jahrhunderts. Wir glauben, dass wir in einem Zeitalter der Frauenrevolutionen leben, oder besser gesagt, dass die Revolutionen unserer Zeit Frauenrevolutionen sein müssen. Frauenrevolution bedeutet, das Leben zu befreien. Unter der Führung von Frauen, die autonom organisiert sind, und basierend auf einer Befreiungsideologie. Da dies in Rojava zum ersten Mal konkrete Gestalt annahm, hatte und hat die Frauenrevolution hier einen großen Einfluss auf die Frauen- und feministischen Bewegungen in der ganzen Welt. Denn das, was in Rojava passiert, die revolutionäre Bewegung und die Angriffe gegen sie, ist repräsentativ für Entwicklungen im globalen Maßstab. In diesem Sinne ist die Frauenrevolution in Rojava Teil eines weltweiten Kampfes, der das 21. Jahrhundert in ein Zeitalter der Frauenbefreiung verwandeln wird. Was auch immer dort geschieht, ist daher von großer Bedeutung für Frauen- und feministische Bewegungen in der ganzen Welt. Die Angriffe richten sich nicht nur gegen die Frauen in der Region, sondern gegen alle Werte der transnationalen Frauenbewegung. Deshalb sollten Frauen auf der ganzen Welt Rojava verteidigen.
Was ist euer Appell an Widerstand leistende Frauen und Feminist*innen der Welt angesichts der Angriffe in allen Teilen Kurdistans? Wie sollte globale radikale Solidarität in dieser Phase in die Praxis umgesetzt werden?
Frauensolidarität ist entscheidend, um die Revolution gegen alle Arten von Angriffen zu verteidigen. Sie muss aktiv und radikal sein. Sie muss ein starkes und wirksames Instrument der Verteidigung sein, wie eine riesige Mauer, die misogyne, faschistische und kapitalistische Kräfte nicht überwinden können. Die Türkei bereitet sich auf eine Bodenoffensive vor. Wir müssen sie aufhalten, jetzt. Dazu sind radikale Maßnahmen erforderlich. Wir müssen großen Druck vor allem auf die westlichen Staaten ausüben, insbesondere auf die US-Regierung. Lassen wir uns von deren Statements nicht beirren: In den letzten 40 Jahren hat die Türkei in ihrem antikurdischen Krieg immer im Rahmen der NATO gehandelt. Einige westliche Regierungen fordern die Türkei gerade auf, "verhältnismäßig" zu bleiben und keine Zivilist*innen anzugreifen. Das zeigt uns, dass sie grünes Licht für militärische Angriffe gegen unsere Selbstverteidigungskräfte gegeben haben, obwohl sie ganz genau wissen, dass das Bombenattentat von Istanbul vom türkischen Staat selbst inszeniert wurde. Unser Appell an die Frauenbewegungen und -organisationen ist, diese schmutzige Verschleierung, Kollaboration und Heuchelei aufzudecken und Druck auf westliche Regierungen und internationale Organisationen wie die UN auszuüben, um die türkischen Angriffe zu stoppen und eine neue Bodenoffensive mit dem Ziel, noch mehr Gebiete in Rojava und Nordostsyrien zu besetzen, zu verhindern. Wenn Frauen sich zusammentun, können sie eine unüberwindbare Mauer der Solidarität und Geschwisterlichkeit errichten, um die Frauenrevolution zu verteidigen. Dies ist unser Appell an die Frauen der Welt.
Interview: Hêlîn Dirik
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